Die ein oder andere mag sich vielleicht über das Lookbook unserer aktuellen Herbst/Winterkollektion gewundert haben – die Puppen haben keine Gesichter und die „Anziehsachen“ scheinen ihnen nicht immer perfekt zu passen. Das macht jedoch totalen Sinn.
Herbst/Winterkollektion 2016/17 Lebenskleidung Rib 2x1
Denn der Katalog ist inspiriert von der sogenannten „Anziehpuppe“, an die sich ältere Semester sicher noch gut erinnern und mit denen auch Jüngere schöne Kindheitserinnerungen verbinden; Erinnerungen an Tage, als man noch zu Schere, Papier und Kleber griff, um den perfekten Look zu „entwerfen“. Mit den Anziehpuppen können Farben, Qualitäten und Muster gemixt werden, was das Zeug hält, wie im bevorstehenden Herbst/Winter 2016/17 – so kamen wir auf die Anziehpuppen. Wer glaubt, Anziehpuppen seien lediglich Kitsch, etwas für kleine Mädchen und hoffnungslose Romantikerinnen, sei eines Besseren belehrt: Sie veranschaulichen uns Modegeschichte, inspirieren uns und bieten die Möglichkeit zu einem ironischen und insofern kritischen Umgang mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Mode – gerade was Geschlechterverhältnisse angeht. Ein Thema, was auch in der nachhaltigen Mode zunehmend eine Rolle spielt. Grund genug also, Euch mit den kuriosen Anziehpuppen oder „Paperdolls“ bekannt zu machen
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Die englische Bezeichnung „Paper dolls“ der meist 20 cm großen Papierfiguren verrät weitaus mehr über ihren den Ursprung. In der Vergangenheit erfreuten sie sich als Spielzeug großer Beliebtheit – und das schon im 18. Jahrhundert. In erster Linie natürlich bei Mädchen, aber auch bei erwachsenen Frauen. Das „Journal des Luxus und der Moden“ beschreibt die Figuren im Jahre 1791 folgendermaßen:
„Eine neue sehr artige Erfindung ist die so genannte englische Puppe, die wir vor kurzem aus London erhalten haben. Es ist eigentlich ein Kinderspiel für kleine Mädchen, aber dabei so artig und geschmackvoll, dass wohl auch Mütter und erwachsene Frauenzimmer gern damit spielen, zumal da man den guten oder schlechten Geschmack, sich zu kleiden und zu coeffieren sinnlich darin zeigen und sozusagen studieren kann.“ 1
Zum„Volksspielzeug“ für jüngere und ältere Damen avancieren die „Paper dolls“ allerdings erst mit dem Aufkommen fortschrittlicher Drucktechniken im 19. Jahrhundert.
Zum einen erscheinen sie in etlichen mondänen europäischen Mode-Journals, weil die Redakteure glauben, dass sie ihren modebegeisterten Leserinnen damit einen besseren Eindruck der vorgestellten Kollektionen vermitteln können. Zum anderen sollten sie als Gratis-Beigabe den Verkauf von Kaffee, Schokolade oder Nähgarn ankurbeln. Als Werbeartikel waren sie außerdem in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften abgebildet. In Europa war damit ihr Höhepunkt erreicht – jedoch nicht in den USA. Ihren Peak hatten die Paperdolls dort in 1930er bis ausklingenden -50er Jahren, weil sie nach der „Grossen Depression“, die den „Roaring Twenties“ folgte, schlichtweg günstiges Spielzeug darstellten. Die heile Welt, die uns im gesamten Designbereich der 50er Jahre erscheint, bildet sich auch hier ab und täuscht über die damaligen Bedrohungen wie finanzielle Nöte und den möglichen Atomkrieg hinweg: Häufig können die Puppen passend zu den scheinbar typischen Freizeitbeschäftigungen amerikanischer Familien, samt Asseccoires angezogen werden.
Oft verliehen damalige Stars wie Grace Kelly, Elisabeth Taylor, Jackie Kennedy oder Shirley Temple den Figuren ihre Gesichter und boten Mädchen zweifelhafte Vorbilder.
Highlights der Paperdolls bilden schließlich die bekleidbare Barbie zum Ausschneiden und die britische Stilikone Twiggy.
Traurig aber wahr: Da die Spielzeuge in erster Linie für Mädchen und Frauen hergestellt wurden, spielten auch stereotype Themen wie Babies, Prom Nights und Hochzeiten eine große Rolle –Petticoat und Popcorn lassen grüßen!
Aber nicht nur! Mädchen werden auch frech und in zumindest für damalige Verhältnisse Top-Positionen wie Chefsekretärinnen, Lehrerinnen und Stewardessen dargestellt.
Die Anziehpuppen in der DDR hingegen zeigen Frauen - passend zur Staatsideologie – weniger als liebende Mütter und strahlende Bräute, sondern primär als Arbeiterinnen. Die Garderobe der Puppe „Karin“, erschienen in der DDR 1964, wirkt aus heutiger Sicht sogar besonders trendig. In den USA können dafür auch Sagen-, Märchen- und sogar Comicfiguren wie Superman angekleidet werden.
In den 70er Jahren zeigen sich auch die Paper dolls – wie könnte es anders sein - in bunten und schrillen Dresses.
Die Geschichte der Figuren aus Papier beweist, dass sie bestens geeignet sind zum Experimentieren: sowohl mit Modetrends vergangener Zeiten, aber auch mit Geschlechterrollen - wenn Superman zum Beispiel plötzlich ein Kleidchen trägt. Damit sind wir wieder beim Thema des kommenden Herbst/Winters 2016/17: Mix it, Baby! Lebenskleidung liefert Euch dazu die passenden Bio Stoffe in den Trendfarben. Alle hier verwendeten Bilder und Informationen stammen von Jörg Bohn – Galerist des virtuellen Spielzeugmuseum. Erstmalig veröffentlicht wurde Bohns Expertise und Galerie im Sammlermagazin TRÖDLER, Heft 3/2009 Wer mehr über die Geschichte der Anziehpuppen erfahren möchte, sollte sich dort unbedingt umschauen - eine wahre Fundgrube für Vintagelovers. Quellen: „Journal des Luxus und der Moden“ 1971, zitiert nach Jörg Bohn, http://www.puppenhausmuseum.de/paper-dolls-50s.html, Stand 18.08.16.